Es war genauso kalt wie jetzt. Irgendwas unter minus zehn Grad. Es war im Winter 1984. Gut zwei Jahre vor dem Gau in Tschernobyl bauten wir das Atomkraftwerk Lubmin. Direkt an den Ostseestrand. In Ruf- und Stromversorgungsweite Polens. Mit Stahl aus dem Westen, Arbeitern aus der DDR, Schweißelektroden aus dem Osten. Experten vom ZIS, dem Zentralen Institut für Schweißtechnik Halle. Und Monteuren aus Merseburg und Halle. Von der IMO (Industriemontagen), vom MLK (Metalleichtbaukombinat), vom SKET (Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann). Und Experten aus Russland, die sich auskannten mit Atomkraftwerken. Die auch schon den Bau des Reaktors in Tschernobyl betreut hatten.
Die Experten, die Spezialisten, die Abteilungsleiter, die Monteure – sie waren immer da. Im Zwölfstundenschichtdienst, Tag und Nacht, im Mittwoch/Mittwoch-Rhythmus. Mittwoch bis Mittwoch auf Montage, Donnerstag bis Dienstag frei. Geschlafen im Arbeiterwohnheim Greifswald. Oder eher gehaust. In Zweiraumwohnungen. Küche mit Elektroherd und Kühlschrank, Bad mit Wanne, zwei Zimmer mit jeweils zwei Doppelstockbetten. Ein Zimmer mit Tisch und Stühlen. Zum Doppelkopfspielen. Und zum Saufen. Bierbowle zum Beispiel. Beliebt nach der Nachtschicht (18 bis 6 Uhr). Am Abend vorher angesetzt.
Zutaten: Ein (einigermaßen) sauberer Wischeimer, Früchte aus der Dose, aus dem Glas. Pflaumen, Pfirsiche, Aprikosen, Kirschen – was auch immer da war. Zucker drüber und Ruß. Also Schnaps, so hochprozentig wie möglich. Am besten Primasprit. Wenn nicht, dann Korn, Goldbrand. Alles, was dreht. Abdecken, über Nacht stehen lassen. Am Morgen dann, nach dem Duschen, Bier drauf. Helles, Pils, Dunkles, Bock – egal. Hauptsache genug, um den Wischeimer bis zum Rand aufzufüllen. Umrühren, fertig. Dann in Gläser abgefüllt. Doppelkopf- oder Skatkarten auf den Tisch und ab ging die Post. Morgens um sieben. Bis zehn/elf Uhr waren alle voll. Ab in die Koje. Viele gleich in ihren Arbeitsklamotten. Um nicht zu viel Zeit mit Anziehen vertrödeln zu müssen.
Kurz vor fünf fuhr der Montagezug. Morgens wie abends. Von Greifswald nach Lubmin. Ein Zug voller Monteure. Ein Schichtzug voller Karo-Qualm, Schweißgeruch, Männersocken-in-Arbeitsschuhen-Gestank. Und voll. Sitzplätze gab´s nur für altgediente Monteure. Wehe, ein Neuer hatte sich auf einen Platz eines alten Hasen gesetzt. Da gab es schon gleich mal Dresche. Oder zumindest die Androhung derselben. Natürlich gab´s auch Kaffee. Monteurskaffee. Monteurskaffee sah aus wie Kaffee, wurde aus Kaffeetassen getrunken. War aber keiner. Wodka oder Goldi mit Cola. Morgens, kurz vor Fünf im Schichtzug.
Punkt sechs ging´s dann los. Auf der riesigen Baustelle. 500 Meter breit, zwei Kilometer lang. Vom Gerüst oben der Blick bis hinüber zur Greifswalder Oie, bis nach Rügen. Und nach Polen konnte man sehen, entlang der Strommasten. Es ging um den Bau von „Block fünf und sechs“. Vier Blöcke waren schon in Betrieb. Versorgten ein Zehntel der DDR und Westpolen mit Atomernergie. Oder „Strom aus dem Kernkraftwerk“, wie es damals hieß. Auf der Baustelle gab es überall Alarmlampen und -sirenen. Für den Falle des Falles. An den nie einer wirklich gelaubt hat. Deshalb störte es auch keinen, dass bei einigen Notfall-Rundumleuchten die Anschlusskabel lose heraus hingen. Das war eben so.
Der Bau von Block fünf und sechs kam aber sowieso nicht recht voran. Kein Stahl, keine Schweißelektroden, kein dies, kein das. Immer hat irgendwas gefehlt. Manchmal haben die Monteure das erst gemerkt, wenn sie vor Ort waren. Oben auf dem Reaktorblock, in 60 Meter Höhe. Dann ging es wieder runter. Über unendlich lange Gänge, Gerüstleitern. Durch tonnenschwere Sicherheitstüren, über rutschige Verbindungsschächte. Unten angekommen war dann Pause. Frühstückspause. Manchmal auch schon Mittag. Dann gab es bei manchen Monteurskaffee. Andere hatte noch ein Schluck Bierbowle in der Thermoskanne.
Block fünf ging 1989 in Probebetrieb.Und wurde wieder abgestellt. Nach dem Protest von Umweltgruppen. Wie auch der Rest des Kernkraftwerkes. Denn was die Monteure schon damals wussten, wurde nach 1990 auch offiziell bekannt: Die Baupläne für Lubmin waren Kopien aus Tschernobyl. Aber das hat 1984 noch niemanden gestört. Bei Bierbowle und Monteurskaffee ließ es sich aushalten. Auch im Winter.
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omg diese sauferei zu ddr-zeiten … nicht umsonst hatte die zone die höchste alkoholiker-rate weltweit
diese harten arbeitsbedingungen waren sicher kein zuckerschlecken und die hierarchie die du im zug beschreibst ein immer wiederkehrendes übel zu ddr-zeiten, sei es da, oder in der kneipe oder auf dem rummelplatz
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Dem will ich gar nicht widersprechen. Aber wir haben nicht den Reaktor, sondern die Hülle, das Bauwerk drumherum, gebaut. Unser Bauleiter war ein Experte aus der UdSSR und der hatte u.a. auch erweiterte Baupläne, deren Ursprung in den Plänen für Tschernobyl lag.
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Nette Schilderung der Verhältnisse, aber bitte technisch exakt bleiben:
Die Lubminer Reaktoren waren Druckwasserreaktoren, der Tschernobyl-Typ ist ein graphitmoderierter Typ. Deshalb ist absolut falsch: „Die Baupläne für Lubmin waren Kopien aus Tschernobyl.“
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Gekonnt formuliert. Samstags ging es nach der Tagschicht in die Nachtbar in Greifswald. Da schleppten dann die Monteure die Boddenmädels ab. Oder umgekehrt.
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